Seit fünf Tagen schaue ich sehnsüchtig hinauf. Zur Gratlspitz. Markant; schier unbesiegbar thront sie hinter unserem Ferienhaus empor. Überall lese ich von ihrer exponierten Lage, die eine »herausragende Aussicht in alle Himmelsrichtungen bietet«. Der Hausberg von Alpbach, »ideal für Sonnenauf- und Untergänge«. Doch das unbeständige Wetter macht den Aufstieg unmöglich. Heftige Gewitter ziehen über das schönste Dorf Österreichs. Das Gipfelkreuz ist tief in den Wolken verhangen.
Wie sieht es wohl da oben aus? Das möchte ich herausfinden. 400 Höhenmeter später starte ich die Drohne, um wenigstens ein Hauch der postulierten Freiheit einfangen zu können. Ein Bild Video sagt bekanntlich mehr als tausend Worte.
Das Video ist nun 24 Stunden her. Heute ist der letzte Urlaubstag. 18:00 Uhr. Zeit die Koffer zu packen. Ein letztes Mal marschiere ich über den 15 Meter breiten Holzbalkon und bewundere die Blumen, die meine Tochter auf der Wiese gepflückt hat.
Und wie jeden Tag ziehe ich mir einen Splitter ein. Groß wie eine Stecknadel. Durch die Socken in die Haut. Doch was mich von den Socken haut, ist nicht der Splitter; es ist das fehlende Gewitter!
Das reimt sich und »was sich reimt, ist gut«, würde Pumuckl sagen. Und tatsächlich. Plötzlich lichten sich die Wolken. Die Sonne kommt raus.
Jetzt oder nie! Mein Sohn erklärt sich bereit, mit mir ins Abenteuer zu starten. Den Aufstieg zu wagen. Zur Gratlspitz. Auf 1.899 m Höhe; noch vor dem Abendessen! Echter Enthusiasmus. Zumindest bei mir. (Bei ihm wohl eher Mitleid für meine Situation.)
Dass knapp 1.000 Höhenmeter vor uns liegen, weiß er aber noch nicht 😉
Eine Abkürzung muss her. Wir müssen näher ran. Weiter nach oben. 10 Autominuten später kommen wir am Parkplatz hinter der Jausenstation Zottahof an. Das reduziert die zu gehenden Höhenmeter auf 690.
Laut Wanderschild sind es ab hier nur 1,5h bis zur Gratlspitz.
Komoot sagt: » Schwere Wanderung. Gute Grundkondition erforderlich. Gute Trittsicherheit, festes Schuhwerk und alpine Erfahrung notwendig.« Also genau was ein Stadtmensch braucht, der mit schwerem Fotorucksack und seinem 12-jährigen Sohn am letzten Urlaubstag das finale Abenteuer sucht.
Wanderung zur Gratlspitz
Die ersten Meter laufen wie geschmiert. Ein kurzes Stück durch den Wald, vorbei an sehr entspannten Kühen.
Sämtliche Sehnsüchte werden bestätigt. Vor uns liegt ein kleines Holzhaus. Der Kamin ist an. Rauch zieht aus dem Schornstein. Zwei Kinder spielen im Garten. Davor parkt ein VW California. Wie im Bilderbuch.
Doch keine Zeit zum Träumen. Wir müssen uns beeilen. Der Berg ruft. Wir verlaufen uns direkt an der ersten Wegkreuzung. Neben der Hösljochkapelle laufen wir am kleinen See geradeaus weiter …
… statt links zum Steinweg abzubiegen. Zum Glück noch rechtzeitig bemerkt.
Es folgt ein steiler Anstieg, auf unwegsamem Gelände. Mitten durch den Wald, geht es bis zur ersten Lichtung mit einer unbewirtschafteten Hütte.
Der Hochsitz muss natürlich bestiegen werden.
Und bietet einen wunderbaren Ausblick ins Tal.
Dann geht es verschwitzt weiter. Mehr Höhenmeter als Wegstrecke. Gefühlt sind selbst die Schnecken am Wegesrand schneller als wir.
Dass der Fotorucksack wie immer zu voll ist; muss ich an der Stelle sicher nicht erwähnen. Doch die phänomenale Aussicht ins Alpbachtal entschädigt für alles. Vom Wiedersberger Horn ziehen ein paar Regenwolken auf, während auf der anderen Seite die Sonne scheint. Regenbogen inklusive.
Dafür hole ich sogar die große Kamera aus dem Rucksack.
Nach einer Stunde steilem Bergauf, mit ersten Felsen und Geröll, erreichen wir schließlich den Gratweg.
Plötzlich ist Hochsommer. Die tiefstehende Sonne scheint uns mitten ins Gesicht.
Während ich mich am Sonnenstern meines neuen Objektivs (Nikkor Z 24-120 mm) erfreue, bemerke ich langsam, wie die Stimmung bei meinem Sohn kippt.
Er hat Hunger. Und eigentlich möchte er lieber zurück. Oh nein … Die Gratlspitz liegt direkt vor uns!
Doch ich hatte ihm versprochen, dass er jederzeit die Spielregeln ändern kann. Wir kehren um, wann immer er will. Er weiß aber auch, wie gern ich den Gipfel erreichen möchte. Die Aussicht genießen. Fotografieren. Euch den passenden Blogbeitrag servieren.
Doch mir wird klar: die optische Nähe zum Gipfel ist eine Täuschung. Der Gratweg ist ein stetiges Auf und Ab. Wir wären noch locker eine Stunde unterwegs; und müssen dann den kompletten Weg zurück zum Parkplatz. Ich sehe ein, dass wir es heute leider nicht mehr schaffen. Nicht unter diesen Bedingungen. Nicht ohne Abendessen.
Wir brechen ab und ich ziehe den Joker aus dem Rucksack. Meine Drohne.
»Ich fliege einfach zum Gipfel«, rufe ich selbstsicher. Dann hebt die Drohne ab; fliegt aber nicht weiter als 50m. Höher als 30m geht es ebenfalls nicht. Flugverbotszone. Die Drohne bleibt einfach stehen. Pech gehabt. Sehr schade!
Es bleibt nur dieses Abschiedsfoto:
Dann treten wir den Rückweg an.
Fazit
Den Gipfel nicht erreicht. Keine Fotos gemacht. Den Sonnenuntergang verpasst. Es kann nicht immer klappen. Dafür aber ein schönes Vater-Sohn-Erlebnis gehabt. Wie sagt man so schön: »Der Weg ist das Ziel!«
Danke Theo!
4 Kommentare
Hallo Thomas, hallo Theo,
vielen dank für die schöne Geschichte aus eurem Urlaub. Ein episches Video und Bilder, die trotz widriger Bedingungen toll die Atmosphäre dieser traumhaften Gegend wiedergeben. Aber fast am meisten habe ich mich über erfrischenden Bericht gefreut. Das kommt mir ziemlich bekannt vor. Hut ab dass ihr das zusammen angegangen seid. Danke für die Mühen, ihr habt mir ein bisschen Urlaub geschenkt.
Danke Janosch, für dein nettes Feedback. Richte ich Theo aus, da wird er sich freuen.
Und wer weiß, vielleicht übernimmt er ja später meinen Blog oder wird zum Drohnenpilot 😉
Hallo Thomas,
wenn ich deinen höchst kurzweiligen Blogbeitrag lese, die wundervollen Fotos + Video sehe, und alles in allem weiß, ihr hattet eine gute Zeit dort, komme ich zu dem, was mich immer öfter umtreibt: Der Prozess ist meistens bedeutsamer, als das Resultat… 😉
Ich bin übrigens genau dort Ende der 90er Jahre gewesen. Wir hatten eine Hütte weit oberhalb Alpbachs, sind aufgestiegen, und ganz oben gab es tatsächlich noch stellenweise Passagen mit Altschnee.
Vielen lieben Dank für den schönen Artikel!
Herzliche Grüße, Dirk
Absolut richtig, Dirk. Am Ende ist die Fotografie nur der Vorwand, um loszuziehen. Das Resultat ist die Erinnerung.
Gute Fotos konnte ich trotzdem machen: An den Tagen zuvor, als das Wetter schlecht; und demnach ideal zum Fotografieren war. Davon werde ich im nächsten Blogbeitrag berichten, damit hier wieder etwas Leben in die Bude kommt.
Danke für deinen Kommentar 🙂